20. Juni 2016

Richter prüfen Stichwahl in Österreich: Erste Zeugen offenbaren einen Abgrund - Markus Gärtner


Vor dem höchsten Gericht Österreichs wird mit der 
Vernehmung von 90 Zeugen seit diesem Montag geprüft, 
ob die Bundespräsidenten-Stichwahl vom 22. Mai 
aufgehoben werden kann. Die FPÖ hat dies in einer 
152 Seiten langen »Anfechtungsschrift« beantragt. 
Ihre Vorwürfe beinhalten unter anderem die Beeinflussung 
von Wählern sowie Unregelmäßigkeiten bei der Auszählung 
der Briefwahlstimmen in über 80 Prozent der 113 Wahlbezirke. 

Diese Woche hören die Richter vier Tage lang Zeugen an. 
Kommende Woche wird - ebenfalls öffentlich - vor den 14 Richtern 
des Verfassungsgerichtshofs (VfGH) verhandelt. Die ersten Tweets österreichischer Journalisten zum Auftakt der VfGH-Anhörung 
machen Beobachter völlig fassungslos.
Was sich hier offenbart, ist ein Abgrund an Desinformation von 
Beisitzern, Sorglosigkeit, willkürlicher Delegierung von Auszählungen 
sowie grobe Nachlässigkeit bei der Amtsausübung von Wahlleitern
und Beisitzern – und das am laufenden Band.

Das wurde gleich bei der Vernehmung des ersten Zeugen, 
einem Wahlbeisitzer aus dem Bezirk Innsbruck-Land, deutlich, 
wenn man sich den Ticker beim Kurier anschaut. Der Mann 
hatte als Beisitzer keinen blassen Schimmer, dass am Montag 
nach der Stichwahl in seinem Bezirk ab 9:00 Uhr ausgezählt 
wurde. »Nein, das habe ich erst aus den Medien erfahren«, 
sagt er dem Gericht. Hätte er um diese Zeit, wie er es laut 
Gesetz soll, dabei sein können? »Ja«, lautet seine kurze 
Auskunft an die Richter. Als er dann um 16:00 Uhr so wie
er »geladen« war, zur Auszählung kam, war diese bereits 
beendet.

Auf die Frage, wie und wann die Stimmen ausgezählt worden
seien, antwortete er: »Soweit ich weiß, von den Mitarbeitern 
der Behörde.« Der Beisitzer wurde gefragt, ob er Gelegenheit 
gehabt habe, die vielen Handlungen der Stimmzähler, die 
ohne seine Anwesenheit vorgenommen wurden, zu überprüfen.

Antwort: »Das weiß ich nicht. Ich nehme an, dass das möglich 
gewesen wäre, wenn ich gefragt hätte.« Der Mann wusste vor 
Gericht nicht einmal, ob andere Beisitzer bei der Auszählung 
anwesend waren. Er wusste auch nicht, ob der Wahlleiter dabei 
war. Diesem seien nur die auszuscheidenden (ungültigen) 
Wahlkarten vorgelegt worden.

Ein zweiter Zeuge, der als Wahlleiter in Innsbruck-Land eingesetzt 
war, gab dem Gericht gegenüber zu erkennen, dass er von der 
gesetzlichen Vorschrift wusste, wonach die Beisitzer für die 
Auszählung ab 9:00 Uhr hätten geladen werden müssen. 
Es sei jedoch abzusehen gewesen, »dass kein Beisitzer 
erscheint«. Es gebe vielmehr seit 2013 eine »Ermächtigung«, 
ohne Beisitzer zu verfahren.

Als er gefragt wurde, warum es diese Ermächtigung gebe, 
antwortete er, eine fristgerechte Durchführung sei bei der 
hohen Zahl der Briefwahlkarten mit Beisitzern kaum zu 
bewältigen gewesen. Die Auszählung der 14 000 Karten 
sei nicht dokumentiert worden: »Nein, leider nicht«, 
so der Tweet-Ticker im Kurier.

Schon vor der Auszählung, am eigentlichen Wahltag, 
dem Sonntag, seien die Stimmkuverts vorzeitig geöffnet 
worden, um festzustellen, ob die geforderte eidesstattliche 
Erklärung den Stimmkarten beilag.

Die dritte Zeugin war für den Wahlbezirk Innsbruck-Land die 
Klubsekretärin der Grünen, die als Beisitzerin eingeteilt war. 
Sie habe wegen beruflicher Tätigkeit am Montag nach der 
Stichwahl lediglich Zeit gehabt, zwei Mal kurz bei der 
Auszählung vorbei zu schauen, »jeweils rund fünf Minuten.«

An einen Beschluss, der den Wahlleiter für die alleinige 
Auszählung ermächtigte, konnte sich die Dame vor Gericht 
nicht erinnern. Sie habe ganz auf korrekte Abwicklung vertraut: 
»Wenn ein Jurist am Werk ist, wird das schon stimmen«, so die 
Auskunft der Grünen, die selbst unter den Richtern Gelächter 
provozierte.

Trotz fehlender Protokolle und einiger Ungereimtheiten 
sahen die Beisitzer seltsamerweise keine Anzeichen für
irgendwelchen Missbrauch, lautete die Zusammenfassung
der Zeugenaussagen dieses Bezirks.

Die erste Zeugin im zweiten vom VfGH überprüften Bezirk, 
der Südoststeiermark, fand bei ihrem Eintreffen zur Auszählung 
ebenfalls vorsortierte Wahlkarten vor. Die Briefwahlstimmen 
waren zuvor ausgezählt worden. Diese Zeugin, sie war Beisitzerin 
für die FPÖ, gab sogar an, sie habe auf Druck des Wahlleiters 
nicht an der Auszählung teilnehmen können.

Ihre Anwesenheit, so die Begründung, wäre unfair gewesen,
weil auch von den anderen Parteien keine Beisitzer kamen. 
Laut dem zweiten Zeugen des Bezirks, dem Bezirkshauptmann, 
wurde bereits am Wahltag mit der Auszählung begonnen. 
Am Abend sei der Großteil der Wahlkarten geöffnet und 
ausgezählt gewesen. Das Ergebnis habe um Mitternacht 
festgestanden.

Falls die Vernehmung der vielen Zeugen bis Ende dieser 
Woche nicht einen dramatisch veränderten Eindruck ergibt, 
dürfte unser Nachbarland um eine Reform seines Wahlrechts, 
zumindest aber deutlich präzisere Bestimmungen für die 
Auszählung bei Wahlen nicht herumkommen. Der Eindruck, 
den die ersten Zeugenaussagen in Österreich erweckt haben,
bestätigt ein Prozedere, das demokratischen Wahlen mit Blick 
auf Stimmenauszählung und transparente Zählverfahren nicht 
gerecht wird. Was die 14 VfGH-Richter in der kommenden 
Woche entscheiden werden, bleibt trotzdem offen. 

Quelle Kopp-Verlag


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